Aktualisiert
01.07.2024
Erstellt
01.07.2024
Keuchhusten-Fälle nehmen zu – vermutlich auch wegen der Impfung
Martina Frei / Trotz hoher Impfraten steigen die Keuchhusten-Erkrankungen in westlichen Ländern seit Jahren. Studien mit Affen geben zu denken.
Die «Sonntags-Zeitung», der «Blick», «20 Minuten», «SRF» und weitere Medien berichteten kürzlich über mehr Keuchhusten-Erkrankungen. Als mögliche Gründe dafür nannte der «Blick»: «Corona und die Nachwirkungen auf unser Immunsystem […] Das Virus könnte unsere Abwehrkräfte beeinträchtigt haben.» Weitere, mögliche Schuldige gemäss «Blick»: «Impfgegner», «Verschwörungstheorien», «schlechtere Impfquote» und «mehr Ausbreitungsmöglichkeiten. Wir stecken uns wieder leichter an.»
Die «Sonntags-Zeitung» zitierte den Präsidenten der Eidgenössischen Impfkommission, Christoph Berger: «Die Fallzahlen von Keuchhusten schwanken und verlaufen in Wellen […] In der Covid-19-Pandemie gab es wegen der Abstands- und Maskenregeln praktisch keinen Keuchhusten. Jetzt könnte es da gewisse Nachholeffekte geben […] Und es könnte auch sein, dass vermehrt Keuchhusten getestet wird», erläuterte er.
Doch eine wichtige Information fehlte.
«Spektakuläre Rückkehr des Keuchhustens» – trotz hoher Impfraten
Bereits im November 2017 wies Camille Locht, der Forschungsdirektor des nationalen französischen Instituts für Gesundheit und medizinische Forschung INSERM in der Fachzeitschrift «Vaccine» darauf hin, dass Keuchhusten «in mehreren industrialisierten Ländern mit hohen Durchimpfungsraten eine spektakuläre Rückkehr erlebt». Locht, der auch das Zentrum für Infektion und Immunität am Pasteur-Institut in Lille leitet, erforscht den Keuchhusten seit Jahrzehnten und ist daran, einen neuen Keuchhusten-Impfstoff zu entwickeln.
Im Juli 2019 wunderte sich auch das «British Medical Journal» (BMJ): «Trotz hoher Impfraten steigen die Keuchhusten-Fälle.» Als Beispiel nannte es einen Ausbruch an einer Schule in Los Angeles. 98 Prozent der Schüler und Schülerinnen dort waren gegen Keuchhusten geimpft – und erkrankten trotzdem. Die Alarmglocken hätten in Los Angeles bereits 2005 geläutet, als es dreimal so viele Keuchhusten-Erkrankungen gegeben habe wie im Durchschnitt der fünf vorangegangenen Jahre, berichtete das «BMJ». Seit den 1970er Jahren habe man dort keinen derartigen Anstieg an Keuchhusten-Fällen verzeichnet. Und die Fälle stiegen weiter …
Auch in der Schweiz ist dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) zufolge «seit 2010 ein steigender Trend zu beobachten». Laut dem BAG starben hierzulande in den letzten 15 Jahren vier Säuglinge an Keuchhusten. In Grossbritannien starben seit Jahresbeginn 2024 acht Babies daran, in den Niederlanden vier, berichtet «The Lancet Respiratory Medicine». Keuchhusten ist nach den Masern die zweitansteckendste Atemwegserkrankung.
Studie war «ein Schock»
«Die derzeit verwendeten Impfstoffe tragen vermutlich zum Anstieg der Fallzahlen bei», glaubt der frühere britische Hausarzt Douglas Jenkinson (Infosperber berichtete).
Jenkinson befasst sich seit Jahrzehnten mit dem Keuchhusten, kennt auch die wichtigen Studien dazu und hat ein Buch über die Erkrankung und seine Erfahrungen verfasst. Er begründet seine Vermutung mit Affen-Experimenten. Mitarbeiterinnen der US-Arzneimittelbehörde FDA veröffentlichten die Ergebnisse im August 2023 online in «The Journal of Infectious Diseases». Ihr Bericht sei sowohl «ein grosser Durchbruch» als auch «ein Schock», schreibt Jenkinson in seinem Blog.
Die Keuchhusten-Infektion bei Pavianen verlaufe der beim Menschen sehr ähnlich, erläutert Jenkinson. Frühere Experimente hätten bereits gezeigt, dass Paviane nach der Keuchhusten-Impfung zwar nicht mehr schwer erkrankten – aber sie waren wochenlang ansteckend und gaben die Keuchhusten-Bakterien an andere Tiere weiter. Sie waren sogar länger ansteckend als nicht geimpfte Paviane. Ähnlich Befunde gab es auch bei Mäusen.
Impfung programmierte das Immunsystem um
Den geimpften Pavianen fehlte jene Immunabwehr, die hilft, Keuchhusten-Bakterien auf den Schleimhäuten zu eliminieren, beispielsweise im Rachen. Solche Immunität würde im Gefolge einer Keuchhusten-Infektion gebildet – nicht aber nach Impfung mit den heute in westlichen Ländern üblichen Impfstoffen.
Die im Februar veröffentlichte Studie der FDA-Forscherinnen hat noch mehr herausgefunden. Denn sie zeigte, dass die gegen Keuchhusten geimpften Paviane mindestens zwei durchgemachte Keuchhusten-Infektionen benötigten, um ihr Immunsystem wieder «umzuprogrammieren», so dass es diese Immunabwehr auf der Schleimhaut wieder zustande brachte.
Auch Geimpfte könnten die Babys anstecken
Durch die Impfung werde das Immunsystem der Affen «korrumpiert», schreibt Jenkinson in seinem Blog. Erst nach mehrmaliger «Stimulierung durch eine Neuinfektion» sei es wieder in der Lage, die Immunität zu erzeugen, die es braucht, um die Bakterien auf der Schleimhaut zu beseitigen.
In dem Experiment wurden die Paviane mit einem in den USA zugelassenen Impfstoff geimpft, der in der Schweiz nicht verwendet wird. Der Befund passt aber zu einer Studie an Menschen mit einem Impfstoff, der hierzulande zugelassen ist, und die in eine ganz ähnliche Richtung wies.
Falls diese an Pavianen gewonnenen Erkenntnisse auf den Menschen übertragbar seien, dann verhindere der Keuchhusten-Impfstoff eine umfassende Immunreaktion. Erst nach wiederholten Infektionen mit den Keuchhusten-Bakterien gelinge dem Immunsystem eine normale Immunreaktion. «Übertragen auf Menschen würde das bedeuten, dass gegen Keuchhusten Geimpfte sich trotzdem infizieren und die Erreger unwissentlich weiterverbreiten, weil sie selbst keine oder nur leichte Symptome haben. Wir haben das ja auch bei der Covid-Impfung erlebt», sagt Jenkinson. Aus diesem Grund halte er es für «keine sehr erfolgreiche Strategie», wenn sich rings um ein Baby alle gegen Keuchhusten impfen lassen würden. Denn sie könnten das Baby trotzdem anstecken.
«Im besten Fall marginaler Nutzen»
Keuchhusten-Forscher Camille Locht teilt diese Meinung.
Wenn die Ergebnisse von Studien an Mäusen und Pavianen auf den Menschen übertragbar seien, dann könnten die derzeit bei uns verwendeten Impfstoffe zu dem Anstieg der Fälle beigetragen haben. Denn sie bewirken, dass mehr Menschen die Keuchhusten-Erreger im Rachen tragen und an andere weitergeben können, schreibt der Wissenschaftler auf Anfrage.
«Allerdings gibt es noch keine Daten beim Menschen», schränkt Locht ein. «Die derzeitigen Impfstoffe sind die einzigen, die wir bisher haben. Da sie vor schwerem Keuchhusten schützen und viele Leben retten, sollten sie auf jeden Fall verwendet werden bis neue, bessere Impfstoffe verfügbar sind», rät er.
Vom «Cocooning» hält der Keuchhusten-Experte dagegen wenig. Gemeint ist damit, dass sich um ein Neugeborenes alle engen Bezugspersonen und Haushaltsmitglieder gegen Keuchhusten impfen lassen, um so einen schützenden «Kokon» aus Geimpften um das Baby zu bilden. Erstens sei es schwierig, diesen «Kokon» zu schaffen, vor allem bei einer so ansteckenden Krankheit wie Keuchhusten. Doch selbst wenn es gelinge, das Umfeld für die Impfung zu gewinnen, habe ein solcher Kokon «im besten Fall marginalen Nutzen». Locht beruft sich dabei unter anderem auf eine US-Studie.
Sowohl in der Schweiz als auch in Frankreich und weiteren Ländern propagieren Impfkommissionen hingegen seit Jahren das «Cocooning».
Impfung gegen Todesfälle bei Kindern
Die meisten Todesfälle beim Keuchhusten betreffen Babys, bevor diese geimpft werden können. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sei beispielsweise in den USA fast eines von 200 Babys im ersten Lebensjahr an Keuchhusten verstorben, gibt Locht zu bedenken. Die Keuchhusten-Infektion natürlich durchzumachen, ist für Babys deshalb eine sehr schlechte Option.
Ein Ausweg könnte sein, die Neugeborenen direkt nach der Geburt zu impfen. Doch das funktioniert mit den bisherigen Impfstoffen nicht, zeigten Studien. Auch die Mutter direkt nach der Geburt zu impfen, brachte nicht den erhofften Nutzen.
Die Situation habe sich jedoch «dramatisch» verbessert, als die Ärzte 2012 in Grossbritannien begannen, schwangere Frauen gegen Keuchhusten zu impfen, stellte Jenkinson fest. Dies wird auch in der Schweiz empfohlen. Locht hält dies ebenfalls für die derzeit beste Methode, um die Kleinsten zu schützen. Die geimpften schwangeren Frauen geben dem Kind über die Plazenta Antikörper gegen Keuchhusten mit, die rund sechs Wochen lang wirken.
Säuglinge werden bei uns üblicherweise im Alter von zwei, vier und zwölf Monaten gegen Keuchhusten geimpft. Nach der ersten Impfdosis sind laut der Eidgenössischen Impfkommission EKIF die Hälfte der Babys vor einer schweren Erkrankung geschützt, nach der zweiten Dosis seien es etwa 85 Prozent. Viele Säuglinge haben folglich erst mit vier bis fünf Monaten einen guten Schutz – die schweren Keuchhusten-Infektionen treten jedoch oft in den ersten drei Monaten auf.
Früher starb eines von 25 Kindern mit Keuchhusten
Bevor die Keuchhusten-Impfung Mitte des letzten Jahrhunderts eingeführt wurde, sei von 25 an Keuchhusten erkrankten Kindern etwa eines an dieser bakteriellen Infektionskrankheit gestorben. Daran erinnert Douglas Jenkinson auf seiner Website. Die Keuchhusten-Impfung beseitige diese Erkrankung nicht, aber sie verhindere wirkungsvoll schwere Erkrankungen und Todesfälle.
Anfangs wurden Ganzzell-Impfstoffe aus abgetöteten Keuchhusten-Bakterien eingesetzt. In den 1960er- und 1970er Jahren gerieten sie jedoch wegen möglicher Nebenwirkungen in Verruf. Mehrere Länder stoppten darauf diese Impfung. Schweden etwa setzte sie 1979 aus – worauf dort prompt wieder mehr Kinder an Keuchhusten erkrankten.
In den 1980er Jahren kamen die sogenannten azellulären Keuchhusten-Impfstoffe auf. Sie sind verträglicher, wirken aber auch schwächer. Trotzdem schützen sie gut vor schwerem Keuchhusten. Die azellulären Impfstoffe enthalten wenige, charakteristische Teilstückchen der Keuchhusten-Bakterien sowie Spuren ihres Gifts. Sie sind in westlichen Ländern heute gebräuchlich, die Schweiz führte sie 1996 ein. In weiten Teilen der Welt hingegen werden auch heute noch die billigeren und einfacher zu produzierenden Ganzzell-Impfstoffe benützt.
Seit der Einführung der azellulären Impfstoffe verzeichneten die USA einen steten Anstieg von Keuchhusten-Erkrankungen, hielten die Wissenschaftlerinnen der FDA in «The Journal of Infectious Diseases» fest.
«Keuchhusten hat in einigen Ländern ein spektakuläres Comeback erlebt, vor allem in solchen, die von Ganzzell- auf azelluläre Impfstoffe gewechselt haben», gab Camille Locht 2021 in der Fachzeitschrift «vaccines» zu Bedenken.
Dies sei nicht allein mit verstärktem Testen zu erklären, sagt Jenkinson, sondern vermutlich auch mit den Erkenntnissen aus der Pavian-Studie.
Ausserdem haben die Keuchhusten-Bakterien mittlerweile einen Weg gefunden, wie sie die Immunabwehr von Geimpften teilweise «unterlaufen». Seit Jahren gibt es immer öfter Ausbrüche mit mutierten Keuchhusten-Bakterien. Menschen, die mit den azellulären Impfstoffen geimpft wurden, erkranken vermehrt an solchen mutierten Keuchhusten-Bakterien.
Den Ausweg aus dem Dilemma sehen Jenkinson und Locht in neuen Impfstoffen, die sowohl gegen die Erkrankung, als auch gegen die Infektion und die Weitergabe von Keuchhusten schützen. Am weitesten fortgeschritten ist eine neue Keuchhusten-Vakzine, die Camille Locht zusammen mit Kollegen entwickelt. Sie wird als Nasenspray verabreicht wird ist gegenwärtig in der zweiten Studienphase, die dritte ist in Vorbereitung.
Erfahrungen eines Schweizer Kinderarztes
«Von Ende 2023 bis jetzt habe ich recht viele Kinder mit Keuchhusten gesehen. Mit diesem vermehrten Auftreten war zu rechnen und es ist auch in Zukunft damit zu rechnen. Zum Glück gab es unter den Erkrankten, die ich gesehen habe, bisher keine schweren Verläufe. Die allermeisten Erkrankten waren willentlich nicht geimpft. Ganz wenige wurden mit dem azellulären Impfstoff geimpft, erkrankten jedoch im Kindergartenalter, wo der Impfschutz bereits nachlässt. Bei den Ungeimpften gab es lange, recht mühsame, wenn auch nicht gefährliche Verläufe mit Husten über circa acht bis zwölf Wochen und teilweise auch vermehrter Infektanfälligkeit in den Monaten danach. Die wenigen Geimpften, die erkrankten, hatten eher mildere und kürzere Verläufe und keine vermehrte Infektanfälligkeit.
Wichtig ist, dass wir versuchen schwerste Verläufe und Todesfälle zu verhindern indem wir:
- Kranke wo notwendig und sinnvoll isolieren
- Schwangere impfen
- gefährdete Säuglinge gegebenenfalls mit einem Antibiotikum «abschirmen».
Die Kokonstrategie gehört nicht zu diesen Massnahmen, weil sie aus den oben erwähnten Gründen nicht verfängt.»
Das sagt Bernhard Wingeier. Der Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin arbeitet an der Klinik Arlesheim. Er ist Teil einer Schweizer Studiengruppe, die sich mit der Impfskepsis befasst und informative Fachartikel zu verschiedenen Impfungen und Infektionen herausgibt. Demnächst wird ein Artikel zum Thema Keuchhusten in der Zeitschrift «Primary and Hospital Care» erscheinen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Weiterführende Informationen
- Teil 1 dieses Artikels: «So merkt man, ob der Husten ein Keuchhusten ist»
- Infosperber vom 19.6.2024: «Dr. Kurios: Die schrecklichste Nacht seines Lebens»
- SRF vom 31.5.2024: «Keuchhusten: Wissenswertes über Ansteckung, Symptome und Schutz»